Proletarische Welten by Christoph Schaub

Proletarische Welten by Christoph Schaub

Autor:Christoph Schaub
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: De Gruyter
veröffentlicht: 2019-09-23T13:40:00.618000+00:00


Der Schriftsteller, behaupte ich, hat nicht nötig, große Geschichten zu erfinden. Seine Aufgabe ist es, Tatsächliches aus dem täglichen Leben wiederzugeben und in einer erklärenden Form der Beschreibung den Versuch zu machen, die näheren Umstände, Umgebung und andere Möglichkeiten, die nie gegeben sind und die der Fremde nur ahnen kann, auf eine allgemeine Plattform zu heben.115

Zweitens thematisiert Joe Frank illustriert die Welt ausdrücklich, wenn auch nur im Vorübergehen, die Grenze zwischen vorgeblich faktischer und fiktionaler Literatur. Sowohl belletristische als auch nicht-belletristische Gattungen gehören für den Ich-Erzähler, der – wie Jung – beide Formen von Literatur produziert hat, zum Bereich des Fiktionalen und sind das Resultat literarischer bzw. schriftstellerischer Organisation: „Um die Leser mit meinem Rekord bekanntzumachen: 5 Romane, Stücker 20 Novellen, darunter ein Drama, eine Masse Essays und Tausende von Handelstelegrammen, die ja auch bloß Schwindel sind.“116 Indem Jungs Text so die Aufmerksamkeit der Lesenden auf sich selbst als einen literarischen Text lenkt, der durch narrative Strategien eine bestimmte Welt literarisch konstruiert und nicht einfach widerspiegelt, fordert er seine Leserinnen und Leser dazu auf, kritisch über Wirklichkeitsnarrative nachzudenken. Joe Frank illustriert die Welt ist dann durch die Spannung zwischen einem Anspruch auf Wirklichkeitsrepräsentation und einer ideologiekritischen Reflexion darauf, wie Repräsentationen von Wirklichkeit konstruiert werden, gekennzeichnet. Zu diesen zwei Aspekten treten drittens die bereits ausführlich diskutierten Passagen, in denen Jungs Texte selbstreflexiv darauf verweisen, dass sie Wirklichkeit nicht nur literarisch darstellen, sondern im Verhältnis von Lesenden und Text auch außertextlich herstellen wollen.

Durch sein Festhalten an der Repräsentierbarkeit von Wirklichkeit trennt Jungs selbstreflexiver Realismus das Verfahren der Montage sowie den damit verbundenen modernistischen Impuls zu einer Transformation von Wahrnehmung und Erfahrung vom „assault on representation“,117 der in den historischen Avantgarden vor allem den Dadaismus und seine Montageverfahren bis Mitte der 1920er Jahre kennzeichnete, sowie von dem besonders in der Sprachkrise zum Beispiel in Hugo von Hofmannsthals sogenanntem Chandos-Brief paradigmatisch artikulierten Zweifel an der Erkennbarkeit und Darstellbarkeit von Wirklichkeit. Wenn Adorno die „Negation der Synthesis [als] Gestaltungsprinzip“118 der Montage ausgerufen hatte, dem die Erfahrung der „[Demolierung] alle[r] Vorstellungen vorgegebener und sinnverleihender Ordnung“119 zugrunde liege, organisieren weder dieses „Gestaltungsprinzip“ noch diese Wirklichkeitsdiagnose Joe Frank illustriert die Welt formal oder geschichtsdiagnostisch. Jungs Montagetext soll vielmehr die Weltbeziehung seiner Rezipienten und Rezipientinnen in eine internationalistische und kollektive transformieren, zugleich aber die in Jungs Augen bereits in Anfängen tatsächlich bestehende außertextliche Wirklichkeit einer solchen Weltbeziehung, d. h. die Gegenöffentlichkeiten der internationalistischen Arbeiterbewegung, durch eine Dokumentarästhetik und eine Rhetorik der Zeugenschaft repräsentieren. Die ästhetischen Strategien von Joe Frank illustriert die Welt sind im Kontext einer auch literarisch geführten Auseinandersetzung um politische und kulturelle Hegemonie in der frühen Weimarer Republik zu verorten, in der der Literatur die Funktion zukam, zur Entstehung, Ausbreitung und Stabilisierung von internationalistischen Gegenöffentlichkeiten beizutragen, deren Wirklichkeit durch die als tatsächlich präsentierten, literarisch konstruierten Welten internationalistischer Weltliteratur zugleich bezeugt werden sollte.



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